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Montag, 24. Februar 2014

The Wolf of Wall Street


von Jasmine


Google ist weise.








Aufgepasst! Hier meine Rede an alle, die sie hören wollen, auch wenn ich dafür weder viel Geld (bzw. überhaupt Geld) noch einen Oscar bekommen werde und keinen Designeranzug trage und nicht in einer Luxusloft in New York wohne, wo mir meine Frau den Rücken freihält, so trage ich sie doch mit sehr viel Überzeugung und Enthusiasmus und wölfischem Geheul vor, und das wird ja wohl reichen, um gehört zu werden. Oder?
Oder?

Also.

Liebe Leute, die ihr „The Wolf of Wall Street“ gesehen habt, wie hat es euch gefallen? Alle anderen: Falls ihr ihn noch sehen wollt, macht euch auf etwas gefasst und lest jetzt nur weiter, falls es euch nichts ausmacht, vorab etwas über den Film zu erfahren.

Hoch lebe der Kapitalismus, der immer mehr will, grösser werden, der sich nicht um Konventionen schert, weil er sich die Regeln selber gibt, der sich stets treu bleibt, indem er alles und jeden verrät, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Ideologie, die daraus besteht, eben keine zu haben.

„It’s me taking no for an answer. It’s them selling me, not the other way around. It’s me being a hypocrit is what it is. You know what? I’m not leaving!
(Übersetzung ungefähr: Das bin ich, der ein Nein akzeptiert. Es sind sie, die mich/mir verkaufen, nicht umgekehrt. Das bin ich, wie ich ein Heuchler bin. Wisst ihr was? Ich gehe nicht!)
 
   - Jordan Belforts plötzliche Einsicht, dass er sich nicht wie beabsichtigt der Justiz stellen kann, sondern weiterhin seine Firma weiterführen muss, weil er ansonsten seine Grundüberzeugungen verraten würde.

Leonardo di Caprio betrügt und lügt , fickt, ja vergewaltigt und vor allem kauft sich in seiner Rolle als Jordan Belfort so unglaublich charmant und eloquent durch diesen dreistündigen Film, dass man zwar den Sinn von all dem am Ende nicht recht versteht (Tipp: Der Sinn liegt darin, dass es keinen gibt und auch keinen hat), aber mit feuchten Äuglein im Publikum sitzt und denkt: „Ich habe die richtige Lösung! Ich weiss wie man den Stift verkaufen kann! Denn ich, ich, ich habe aufgepasst!! Ich weiss (jetzt), wie man’s machen muss!“




Ja, so sitzen wir, in den Bann gezogen.
Wir haben die Message angenommen, wie wir das uns halt so gewohnt sind und ich will sie nochmals wiederholen an dieser Stelle, ja, ich will sie euch in dieser meiner Rede nochmals entgegenbrüllen:
Lasst euch verführen!
Vom Geld oder der Aussicht darauf, von teuren Sportwagen, Yachten und Villen oder der Aussicht darauf, vom Bewundertwerden oder der Aussicht darauf, vom immergleichen Spiel des Gewinnenwollens, des Ersterseinwollens; lebt das schnelle Leben, habt nie genug, wollt immer mehr, erliegt dem Charme, liebe Kinobesucher (und legt eure Frauen flach.)
Lasst euch von den Jordan Belforts dieser Welt weiterhin mit Golduhren abspeisen, damit ihr ihnen eure Arbeitskraft und euer Geld geben könnt.
Lasst euch die Illusion verkaufen, jemals so reich werden zu können wie sie es sind.
Lasst euch die Illusion verkaufen, so reich wie sie sein zu wollen, sei ein erstrebenswertes Ziel, in das es sich lohnt, euer Leben zu investieren.


„Are you behind on your credit card bills? Good, pick up the phones and start dialing! Is your landlord ready to evict you? Good! Pick up the phone and start dialing. (...) I want you to deal with your problems by becoming rich! All you have to do today is pick up the phone and speak the words that I have tought you. And I will make you richer than the most powerful CEO in the United States of fucking America.“
(Übersetzung ungefähr: Bist du im Verzug mit deinen Kreditkartenrechnungen? Gut, nimm den Telefonhörer ab und fang an zu wählen! Will dein Vermieter dich rauswerfen? Gut! Nimm den Telefonhörer ab und fang an zu wählen! Ich will, dass ihr eure Probleme löst, indem ihr reich werdet! Alles was ihr heute machen müsst, ist den Hörer abzunehmen und die Worte zu hineinzusprechen, die ich euch beigebracht habe. Und ich werde euch reicher machen als den mächtigsten CEO in den verdammten Vereinigten Staaten von Amerika.)

           - Jordan Belfort, beziehungsweise Leonardo di Caprios epic speech


Lasst euch ja nie sagen, es gäbe eine Alternative zu dem ganzen Spiel.
Weil dann müsstet ihr euch ja plötzlich ernsthaft mit euch selbst und euren Mitmenschen auseinandersetzen.
Weil dann müsstet ihr euch ja plötzlich fragen warum.
Weil dann würdet ihr vielleicht plötzlich anfangen darüber nachzudenken, wie dieses System euch abhängig hält und wie ihr darin eingewickelt seid und davon profitiert, dass es anderen noch beschissener geht als euch.
Weil dann würdet ihr plötzlich merken, dass das Versprechen nicht wahr werden kann, denn es können ja nicht alle gewinnen, das liegt in der Natur der Sache – ohne Verlierer keine Gewinner. 

Das gilt selbstverständlich aber nur für euch alle und nicht für mich, denn ich werde gewinnen, weil ich ja weiss, wie man den Stift verkaufen kann.
Und alle diejenigen, die es nicht wissen, hätten halt besser zuhören sollen und besser mitdenken müssen und wenn sie das nicht tun, wenn sie beispielsweise gar nicht im Kino waren, weil sie sich das Ticket nicht leisten konnten, oder lieber einen Spaziergang machten, die sind halt selber schuld.
Hätten sie halt mal.
Ich hab halt.
So ist es gerecht.
Und wenn es nicht gerecht ist, so ist es halt einfach so.
Tja.
Nur nicht zu viel fragen. Sich ablenken hilft. Sei es mit Drogen, Sex, Gewalt, Nervenkitzel, Arbeit oder (nur) mit einem Kinofilm.

haha, Hilfe!

Das Popcornpack ist leer.
Da sitzen wir also.
Und? Wie fanden wir den Film?
Fanden wir ihn eigentlich ziemlich langweilig?
Fanden wir, er habe irgendwie keinen wirklichen Spannungsbogen, sondern sei nur eine Aneinanderreihung des Immergleichen?
Fanden wir die Reden abgelutscht oder irgendwie schon noch motivierend?
Fanden wir Leonardo di Caprio sexy?
Fanden wir all die nackten Frauen sexy?
Fanden wir es lustig oder doch schon etwas ungerecht, dass der Protagonist so ungeschoren davonkommt?
Fanden wir es verständlich oder doch ein wenig verwerflich, dass diese Männer reich werden, indem sie von armen Leuten klauen?
Fanden wir es nachvollziehbar oder nicht ganz in Ordnung, dass diese Männer reich werden, indem sie dadurch, dass sie manchmal Golduhren verteilen, aber die Gesamteinnahmen für sich behalten, diejenigen, die so gerne so wären wie sie, daran hindern zu merken, dass sie sich dringend andere Vorbilder suchen sollten?
Fanden wir es lustig oder etwas eklig, wie die weissen Heteromänner im Film die Nichtmänner und Nichtweissen und Nichtheteros als ihren rechtmässigen Besitz verstehen und dementsprechend behandeln?


Haben wir die Moral der Geschichte vermisst?

Sonntag, 13. Januar 2013

Django unchained – Have you always been alone?

von Evelyne

Ein Western von Quentin Tarantino, in dem ein Sklave frei wird und sich zusammen mit einem Kopfgeldjäger auf die Mission begibt seine Frau Broomhilda (Kerry Washington) zu retten. Ein Abenteuer, das zeigt, wie Django (Jamie Foxx) wie einst Siegfried versucht seine Brünnhilde zu befreien.


Dr. Schulz und Django

Ein Film der sich in ein schwieriges Territorium begibt. Tarantino stellt das vor-Bürgerkriegs Amerika des Südens auf seine eigene Weise dar und wird genau dafür kritisiert. Auffallend ist die wiederholte Zurschaustellung des nackten schwarzen Körpers. So werden die Mandingo-Kämpfer gezeigt, verschlungen in einem gnadenlosen Kampf um Leben und Tod. (Der Mandingo-Sport ist nicht klar belegt, Tarantino bediente sich dieses Mythos für die Schlüsselhandlungen seines Films) Django hängt zu Ende nackt und kopfüber von der Decke und es gibt auch eine Szene in der er badet. Broomhilda wird nackt in einem Loch im Boden gezeigt und die Peitschenmale auf ihrem Rücken werden zur Schau gestellt. Es werden ausschliesslich schwarze Körper  so gezeigt. Sehr oft ist die Nacktheit verbunden mit Gewalt und Bestrafung. Diese Gewalt wird wiederholt vorgeführt und übersteigert.
Neben der Darstellung von Körpern wurde auch  die sehr häufige Verwendung des N-Wortes im Film kritisiert. Jelani Cobb meint im New Yorker gar „ Had the word appeared any more often it would have required billing as a co-star.“ An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass insbesondere die Bösewichte des Filmes sehr oft von dem Wort Gebrauch machen. So der Plantagenbesitzer Candie (für einmal richtig böse und mit schlechten Zähnen: Leonardo di Caprio) und sein Hauptsklave Stephen (Samuel L. Jackson), der in seiner Verachtung der eigenen Leute eine Reminiszenz an die Onkel Tom Figur darstellt. Djangos Begleiter Dr. King Schulz (Christoph Waltz) schreckt vor dem Gebrauch des Wortes zurück und Django benutzt es vor allem in seiner Darstellung eines Mandingo-Experten.  Die Bösewichte dieses Filmes werden fast ohne Sympathie und nicht als Anti-Helden dargestellt, sondern sind dafür da gehasst zu werden. Die zweischneidigen Figuren sind bei diesem Film die Helden Django Freeman und Dr. King Schulz.

The fastest gun in the west
Django ist ohne Frage ein Westernheld, wortkarg und cool, er wird als fastest gun in the west bezeichnet. Aber er scheint ohne Mitgefühl für das Schicksal der Sklaven zu sein und richtet kein einziges freundliches Wort an einen von ihnen (ausgenommen seine Frau Broomhilda). Krass erscheint die Szene in der er auf dem Weg nach Candies Farm reitend einem Sklaven von oben herab befiehlt ihn nicht anzusehen. Schulz bespricht sich daraufhin mit ihm und äussert sein Unwohlsein über Djangos Umgang mit den Sklaven. Django hingegen hat verstanden, dass er genau mit diesem Akt das Interesse und die Neugier von Candie geweckt hat. Die Herabsetzung der Sklaven gehört zu seinem Akt, das ihn seinem Ziel – der  Befreiung seiner Frau - näher bringt. Djangos Figur wirkt deshalb so stark, weil sie den anderen schwarzen Figuren des Filmes so krass entgegen steht. Keine/r der anderen zeigt auch nur einen Ansatz der Auflehnung gegen die Sklaverei. Django wird von den Schwarzen ebenso schief angeschaut wie von den Weissen. Er stellt ein Rätsel dar. Candie spricht an einer Stelle von dem Sklaven, der den einen unter Zehntausend darstellt, der besonders stark oder intelligent ist und deshalb mehr als ein Sklave sein kann. Er spricht erst über einen seiner Mandingo-Kämpfer und meint dann sofort erkannt zu haben, dass Django so einer unter zehntausend sei.
Django bezieht sich am Ende noch einmal auf diese Bemerkung Candies, bevor er Candyland endgültig dem Erdboden gleich macht. Er verkündet seinem Gegner Stephen, dass er der eine unter Zehntausend sei, der kühn genug sei jeden zu töten, der in seinem Weg zur Freiheit stehe. Diese Rede von dem Einen unter Zehntausend bedient sich der Trope der Sklaven, die sich nicht auflehnen und wehren und ist daher sehr problematisch. Ist Django tatsächlich so alleine in seiner Auflehnung? „Django have you always been alone?“ Wie es im Titelsong heisst.  Im Film scheint es so.
Stephen ist ein Charakter, der nicht nur die Auflehnung ablehnt, sondern die Sklaverei zudem aktiv unterstützt. Zu Beginn lernen wir ihn als eine Art Hofnarr kennen, der sich dagegen wehrt, dass Django als Schwarzer in einem Zimmer im Haupthaus schlafen und wie ein Gast behandelt werden soll.

Stephen streitet mit Mr. Candie
Doch hinter seinem spielerischen, übertriebenen und humoristisch hervorgebrachten Protest steckt grosses Gewaltpotential. Er spricht davon, die Bettlaken in denen Django geschlafen hat danach verbrennen zu müssen. Er ist es schliesslich auch, der Broomhilda und Django verrät und der auch nachdem sein Besitzer tot ist, die Ordnung aufrecht erhält. Sein Verhältnis zu Candie ist aber interessanterweise mit dem von Django und Dr. Schulz vergleichbar. Candie vertraut Stephen, wenn auch nur hinter verschlossenen Türen und folgt seinen Anweisungen.

Stephen durchschaut Broomhilda
So ist es schliesslich nicht der fiese Plantagenbesitzer Candie, der Djangos Endgegner darstellt, sondern Stephen, der sich mit Leib und Seele dem Sklaventum verschrieben hat. Während Candies Ableben der Anfang des Showdowns darstellt, ist der Tod Stephens sein Endpunkt. Gleichzeitig mit Cadie stirbt auch Dr. Schulz und Django ist von diesem Zeitpunkt an auf sich alleine gestellt. Seine wahre Befreiung hatte auf dem Weg nach Candyland begonnen, als er Schulz erklärte, dass er sehr wohl genau wisse wie er Candie um die Finger wickeln könne. Zu diesem Zeitpunkt hörte er auf zu fragen und zu zweifeln und seine Emanzipation von seinem weissen Begleiter Schulz begann. Nach dessen Tod ist er nun dazu bereit, seine Reise alleine fort zu setzen.
Nachdem er die Sklaven raus geschickt hat – mit Ausnahme von Stephen natürlich – macht er Candyland und seine Bewohner dem Erdboden gleich. In diesem Moment wird auch seine Frau Broomhilda, die zuvor eher still war und vor allem die Funktion hatte gerettet zu werden, handlungsfähig. Das Bild, wie sie sich graziös die Finger an die Ohren hält, bevor das Haus explodiert und wie sie anschliessend  das Gewehr in die Hand nimmt und mit Django davonreitet ist episch. Es zeigt, dass Django nun nicht mehr alleine ist in seinem Kampf um die Freiheit.
Es wäre wünschenswert, dass der Film dies noch klarer gemacht hätte, er konzentriert sich jedoch sehr stark auf die Figur des Django und dessen Stilisierung. Dies geschieht auf Kosten des subversiven Potentials der anderen Figuren.

Freitag, 8. Juni 2012

Das Märchen von der Jungfräulichkeit


















von Jasmine


Ich war gestern Abend im Kino und habe mir den Film Virginity Tales von Mirjam von Arx angeschaut, hier für alle den Trailer:

falls jemand das erste Lied kennt, es läuft mir seit gestern nach, konnte es aber nirgendwo finden.. ? :-)

Also ab hier SPOILER ALERT - für alle jene, die noch nichts über den Inhalt des Films erfahren wollen - nicht weiterlesen! Für alle anderen:

Virginity Tales ist ein Dokumentarfilm, der hauptsächlich die Familie Wilson aus Colorado Springs porträtiert und der erzählt, wie die in den USA sehr bekannten Wilsons das von ihnen initiierte Purity Ball Movement vorantreiben. Bei den Purity Balls handelt es sich um Tanzveranstaltungen, an denen Töchter ihren Vätern ihre Reinheit, sprich sexuelle Enthaltsamkeit, bis zur Ehe versprechen. Die Mädchen tragen weisse Kleider, die Väter geloben, ihre Töchter – auch physisch – zu verteidigen und ihnen zu helfen, bis zur Ehe rein, sprich sexuell enthaltsam zu bleiben; die Väter stecken dann weiter den Mädchen einen Ring an den Finger, der irgendwann einmal durch einen Ehering ersetzt werden wird und zum Schluss wird getanzt – Vater mit Tochter, fast schon als wäre es eine Hochzeit nur eben zwischen Vater und Tochter. Dass dieser Veranstaltung die Idee der Jungfräulichkeit zugrunde liegt, ist etwas für PsychoanalytikerInnen, aber belassen wir’s dabei. Denn sowohl die Wilsons, als auch das von ihnen angestossene Movement liessen sich enorm leicht ins Lächerliche ziehen und es ist dem Film zu Gute zu halten, dass dies nicht geschieht, denn zum (Aus-)Lachen ist die Sache nicht.

Ich habe gestern beim gedanklich Wiederkauen des Gesehenen zwei sich widersprechende Gedanken bemerkt, die sich (unkritisch) in meinem Kopf ein Rededuell lieferten:

1.     die prüden evangelikalen Amerikaner finden neue Wege, die ganz und gar nicht subtile Unterdrückung von Mädchen und Frauen wieder salonfähig zu machen, sie instrumentalisieren das allgemeine Unwohlsein bezüglich der sexualisierten (Pop-)Kultur um Mädchen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper abzusprechen, Sexualität generell zu verteufeln und Frauen wieder in die Rolle als Heimchen am Herd zurückzudrängen und das macht mir Angst und macht mich wütend.

2.     die gottverdammte (pun intended) 21. Jahrhundert-Orientierungslosigkeit macht mir aber auch Angst. Wenn es nun also Menschen gibt, die für sich eine Lösung gefunden haben, damit umzugehen, dass die Welt so komplex ist, wie sie ist - why not? Sie haben Antworten. Irgendwie beneidenswert und völlig nachvollziehbar. Wer bin ich, dass ich ihnen sagen dürfte, sie machen es falsch?

Heute ist das alles einmal überschlafen, ich habe mir eine amerikanische Talkshow (der Vater Randy Wilson ist auch als Gast zugegen, ab Teil 2 - einfach rechts die Fortsetzungen anklicken) angesehen zum Thema:
 

und dann noch eine Schweizer Radiosendung (dazu später) angehört und ich verstehe jetzt, dass die beiden Gedanken von gestern sich eigentlich gar nicht widersprechen, sie sind einfach zwei Aufnahmen von unterschiedlichen Standpunkten her:
 So sagt auch Jessica Valenti (Mitbegründerin von feministing.org und eine der Stimmen gegen die Purity Balls in den USA - ich bin übrigens ein erklärter Fan von ihr) in der besagten Talkshow: Es ist völlig okay, wenn einzelne Menschen sich entschliessen, keinen Sex zu haben (ab 6.49 min ist sie zu sehen, im 4. Teil um 2.20 min sagt sie obiges Zitat).Und dem stimme ich vollumfänglich zu, das meine ich damit, wenn ich finde, dass jede(r) für sich einen Weg finden soll, sich in der Welt zurechtzufinden und wenn das über Enthaltsamkeit geht, warum nicht, das ist es, was ich nachvollziehbar finde. Denn es ist ihre persönliche Entscheidung ihre Sexualität so zu leben, wie sie dies wollen – in diesem Falle eben nicht (körperlich). Sei das vor der Ehe oder generell oder während der Ehe, oder auch ohne überhaupt an die Ehe zu denken, weil sie das so wollen.

Das Problem ist aber, dass das Umgekehrte im Weltbild der Wilson-Familie im Spezifischen, aber auch der radikalen Enthaltsamkeitsbewegung (in den USA) nicht funktioniert, weil junge Frauen, und wohl etwas weniger aber auch junge Männer, die sich nicht an diese Purity-Regeln halten, eben nicht rein sind, etwas negatives sind, falsch leben. In der Talkshow ist die Rede von gefallenen Frauen, und im Film reagieren die Wilson-Eltern mit Unverständnis auf die Frage, ob sie es akzeptieren würden, wenn ihre Töchter vorehelichen Sex hätten. Denn eine solche Situation scheint gänzlich undenkbar zu sein. Die Wilsons sprechen dann, offensichtlich von der Frage verwirrt zuerst von unconditional love, die sie ihren Töchtern gegenüber bringen würden, dann sagen sie aber auch, dass, wenn die Töchter in Gefahr seien, der Vater seine Töchter „physisch beschützen“ würde, man denkt dabei an sein Schwert, das er immer mal wieder zu rituellen Zwecken zückt. Die Wilsons fordern also Toleranz gegenüber ihrer Vorstellung davon, wie man tugendhaft und richtig lebt, sind aber nicht bereit, diese Toleranz anderen Menschen mit anderen Lebensentwürfen entgegenzubringen.
Ebenso sagt der Vater Randy im Film, dass auch wenn jemand alle guten Taten leistet, wenn er oder sie dies nicht im Namen Jesus’ macht, diese Person trotzdem in die Hölle komme. Was es dann schon sehr schwierig macht, ihn in seinen Überzeugungen ernst zu nehmen und ihm wohlwollend seine Meinung zuzugestehen (da er das umgekehrt absolut gar nicht tut, kein klitzekleines bisschen).

Die Wilson-Kinder sind allesamt homeschooled, das heisst, die Mutter unterrichtet sie – Kreationismus, keine Einmischung der Regierung ins Persönliche, und da sie von Algebra nichts versteht, betet sie, dass das Wissen darum von Gott kommt... Also diese völlige Abschottung von der Aussenwelt, die mangelhafte Ausbildung der Kinder, die empfinde ich auf individueller Ebene als nicht okay, weil so den Kindern die Chance aberkannt wird, selber denken zu lernen, die Welt selber verstehen zu lernen. Es handelt sich bei den Wilsons um ein völlig in sich geschlossenes System, das totalitär funktioniert, der Anführer ist der Vater. Und dieser wird nicht müde zu betonen, dass es der Wunsch der Kinder sei, rein zu bleiben, er unterstütze und begleite nur. Dass die Kinder sich nie selber entscheiden konnten, wird komplett verleugnet. Und seine Führer-Postition zeigt sich deutlich, wenn er die vor ihm knienden Kinder nacheinander segnet, wenn er den Jungen mit einem Schwert zum Krieger schlägt, wenn er den Mädchen eine Mitgifttruhe trümmert, wenn er den zukünftigen Ehemännern seiner Töchter einen Brief schreibt, wenn er die Kinder selbst verheiratet, wenn seine Frau ihn ihren Leader nennt. Die permanente Verleugnung seiner Machtposition ist schwer verdaulich, vor allem verknüpft mit seiner charismatischen, sanften Art habe ich diesen Mann fast nicht ertragen, der seine Söhne und Schwiegersöhne in den Krieg schickt und seinen Töchtern keine Ausbildung zukommen lässt, sodass die älteste Tochter dann irgendwo auf einer Militärbasis sitzt, alleine zu Hause, wartend darauf, bis (und ob überhaupt) ihr Mann wieder zurück kommt.

Und da liegt nun wieder das Problem nicht hauptsächlich bei den Wilsons, sondern in der Tatsache, dass sie nun als Paradebeispiel für eine enorm mächtige Bewegung stehen – die erzkonservativen Rechten, die auf schreckliche Weise Religion mit Krieg verknüpft. Während nämlich die Frauen rein bleiben bis zur Ehe und dann gute Ehe- und Hausfrauen zu sein haben, werden die Männer zu Kriegern erzogen. Der kleine Junge der Wilsons hat es als grosses Ziel auf die Militärschule Westpoint gehen zu können und dem Feind in die Augen blicken zu können, die bereits verheirateten ältesten Töchter sind beides Army Wives, das heisst, ihre Männer kämpfen in den Kriegen, die die USA führen. Zudem ist Randy politisch sehr engagiert, auch wenn er das fadenscheinig bestreitet: „Es geht nicht um Politik, es geht darum, Entscheidungsträger zu beeinflussen.“ Er ist beim Family Research Council tätig, einem politischen Think Tank, der gegen Frauenrechte (gegen Zugang zu medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, gegen Zugang zu Verhütungsmitteln, natürlich gegen Sex vor der Ehe), gegen LGBTQ-Rechte (das Hauptengagement ist gegen die sogenannte Gay Agenda, sie vermischen stets Pädophilie mit Homosexualität) kämpft, dafür aber die Todesstrafe befürwortet (so viel zu pro life) und der, ja, ich kann es nicht anders ausdrücken, einen Glaubenskrieg führt/ führen will, gegen jegliche Einmischung des Staates ins Private, für jegliche Einmischung Amerikas in andere Länder, so scheint es.
Hier ein Video, das im Film ebenfalls vorkommt, wo Randy auch involviert ist- den Watchmen on the Wall, eine assoziierte Priestervereinigung, die sich politisch vernetzt:



Und, das muss ich jetzt so ausdrücken, this pisses me off! Die christliche Botschaft instrumentalisieren, um Hass und Krieg und Unterdrückung der Frauen zu propagieren und das noch so verdammt erfolgreich, das finde ich eine äusserst üble und besorgniserregende Sache.

Aber, und das gilt es festzuhalten, diese Bewegung findet ja nicht im luftleeren Raum statt, wie ich bereits angetönt habe und es handelt sich dabei auch nicht um ein Portrait einer US-amerikanischen Freakshow, sondern um eine gesellschaftliche Entwicklung, die auch in meinem Umfeld (was das genau ist, ist ein eigenes Buch wert) spürbar ist. Eine Reaktion auf Haltlosigkeit. Und ich verstehe, wie eine solche Familie und auch wie ein Wissen darum, was gut, was böse ist, eine enorme Stabilität gewährt. Dass Väter mit ihren Kindern etwas unternehmen, ist wunderbar, und die Wärme der Wilsons schien nicht nur gekünstelt. Ich plädiere dafür, dass jeder und jedem das Recht zugestanden wird, den eigenen Weg zu finden, mit Orientierungslosigkeit, mit der Übersexualisierung der Gesellschaft, mit spirituellen/religiösen Fragen umzugehen – ohne Gewalt! Einfach echt ohne Waffen, ohne totalitäre (Familien-)Regimes, ohne die Möglichkeiten der einzelnen Menschen in den Systemen einzuschränken (so weit das möglich ist), ohne Mädchen ihr Recht auf eine Ausbildung und eine eigene Identität, ein eigenes Leben abzusprechen ohne anderen mit Gewalt etwas aufzuzwingen (Stichwort Andersgläubigen, Andersliebenden, Anderslebenden!)

Und nach diesem etwas pathetischen Schluss, aber ich fühle mich im Rahmen dieses Themas wirklich gezwungen, das zu schreiben, auch wenn es eigentlich klar sein sollte, noch der Link zur oben erwähnten Radiosendung von DRS1 – die sich mit dem Mythos Jungfräulichkeit auseinandersetzt:


 Nicht nur im Bezug auf die neue Keuschheitsbewegung, sondern mit Blick auch auf früher, was es z.B. bedeutet hat, wenn im Frauen im Kloster und nicht in einer Ehe lebten, dass es medizinisch eben ein so etwas wie Jungfräulichkeit gar nicht gibt und auch fragt, was denn die Jungfräulichkeit überhaupt beenden (?) kann - nur vaginaler heterosexueller Geschlechtsverkehr? Zudem sprechen drei Menschen zum Thema, wie sie die Frage Jungfräulichkeit für sich geklärt haben und eine Kulturwissenschaftlerin erläutert den Kontext und spricht über ihre Untersuchungen zum Thema. Sehr empfehlenswert!!